Freud und Wien
Warum Sigmund Freud in seinem Wiener zeitgenössischen Kontext betrachten? Wien hatte im Fin de siècle eine Schlüsselstelle wie auch eine Sonderrolle in Europa inne. Zur Jahrhundertwende galt Wien mit seinem reichen Kultur- und Gesellschaftsleben, seinen Künstlern, Literaten und Wissenschaftlern als Weltstadt und Kulturmetropole. Die so genannte „Wiener Moderne“ bezeichnet den Kulturbetrieb in der österreichischen Hauptstadt dieser Zeit. In den politischen und gesellschaftlichen Wirren, die schließlich zum Zerfall der Donaumonarchie wesentlich beitrugen, kam es zu einer Blütezeit in Philosophie, Malerei, Architektur, Musik und Literatur, die auch in die Zwischenkriegszeit nachwirkte. Wien wurde zu einem Zentrum des Jugendstils, der vor allem mit der „Secession“ und mit der „Wiener Werkstätte“ verbunden ist, in der Musik war die „Zweiten Wiener Schule“ prägend. Wien war auch Zentrum der Wissenschaft, das u. a. gleich drei Nobelpreisträger für Medizin hervorbrachte. Der berühmte „Wiener Kreis“ als Gruppe von Philosophen und Wissenschaftstheoretikern unter der Leitung von Moritz Schlick begründete sich erst nach dem 1. Weltkrieg. Politisch war Wien in diesen Jahren vor allem durch die Opposition zwischen der Christlichsozialen Partei und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei geprägt. Der Antiseminitsmus war ein tagespolitischer Topos.
Natürlich war Wien auch eine der Zentrifugen des aufkommenden politischen Zionismus, nach der Jahrhundertwende überhaupt die Welthauptstadt der „Zionistischen Bewegung“. Doch auch jenseits zionistischer Kreise das jüdische Leben in Wien, vgl. z.B. die Wiener Loge von B’nai B’rith. All diese Faktoren – Kunst und Kultur, Wissenschaft, Politik, der Zionismus, aber natürlich auch Wirtschaft, Soziales, Religion u. a. – prägten Sigmund Freuds Lebenswelt und die Rahmenbedingungen seines Arbeitens. Es scheint selbstverständlich, dass die Umstände in seiner Stadt Wien genauso Einfluss auf sein Schaffen hatten wie etwa geopolitischen Entwicklungen oder sein internationales Kommunikationsnetzwerk. Dennoch blieb der zeitgenössische Wiener Kontext bei der Bewertung von Freuds Opus zumeist weitestgehend unberücksichtigt. Wiewohl Freuds Briefe intensiv ausgewertet worden sind, liegen viele andere Quellen brach, die Freuds zeitgenössischen intellektuellen Kontext in Wien erhellen würden. Unbeachtet blieben bislang z. B. die damals in Wien geführten Diskurse in den gelehrten Gesellschaften oder Zirkelnoder solche, die über Zeitungsessays transportiert wurden (um nur einige wenige zu nennen), Diskurse, denen Freud sich kaum entzogen haben dürfte. Dies zu ändern ist einer der Programmpunkte der neuen Reihe „Sigmund Freuds Werke. Wiener Interdisziplinäre Kommentare“.